Manfred Pieske, Schriftsteller und Journalist

Orpheus in Bärnau (Künstlergeschichten, 1983)

Drei Künstlergeschichten erzählen von den Ansprüchen, Wünschen und Sehnsüchten von Sängern, Schauspielern und Dichtern. Sie erzählen von einer Welt, in der sich Gewöhnliches und Ungewöhnliches berühren. Da ist viel denkbar, und mancherlei Ungewöhnliches kann geschehen. Wie kann es also kommen, dass Orpheus und Eurydike plötzlich in irgend so einem Bärnau mitten in der DDR erscheinen? Was sie erleben, ist schon merkwürdig und wäre anno dazumal nicht möglich gewesen. Da gibt es selbstfahrende Kutschen, die Gestank verbreiten, und Gesteinsmassive, die man Häuser nennt. In dieser Welt ist alles so anders. Hier gibt es einen Mänätscher, der bestens weiß, wie man heutzutage und hienieden singen muß, um Erfolg zu haben. Das Schoumänätschment droht das berühmte Liebespaar Orpheus und Eurydike auseinander zu bringen, zu zerstören. Die beiden anderen Geschichten dieses Bandes erzählen von der Begegnung mit Bettina von Arnim und einer Schauspielertruppe sowie von dem „Schreibenden Arbeiter“ Theo Krüger, der sich unversehens in die Rolle des Tonio Kröger von Thomas Mann versetzt sieht. Faszinierendes und Alltägliches verschmelzen, und manches klingt wie ein Märchen.

Orpheus in Bärnau - Künstlergeschichten, Hinstorff Verlag Rostock, 195 Seiten, illustirert von Bernd Pawlitzki

Pressestimmen:

Mit dem Begriff „Künstlergeschichten“ faßt Manfred Pieske die drei Erzählungen des Bandes thematisch zusammen. Künstlerproblematik zu gestalten hat Tradition. Manfred Pieske schlägt einen Zeitbogen von der Antike („Orpheus in Bärnau“) über die Gedanken der Romantik („Wendelin“) bis hin zu Thomas Mann („Theo Krüger“). Dennoch sind die Geschichten weit mehr als eine künstlerische Selbstverständigung. Bettina von Arnims Gedanke, den der Erzähler in der Geschichte „Wendelin“ zitiert, man müsse die Menschen empfindsam machen, auch gegen Unrecht, steht als übergreifender Anspruch im Raum. Besonders gelungen in Stil und Ausführung erscheint die moderne Tonio-Kröger-Geschichte.
NEUE ZEIT am 3. 10.1983

Der Band enthält drei im Bereich der Kunst angesiedelte Novellen. Die klassischen Liebenden Orpheus und Eurydike treten, in die Gegenwart versetzt, als Popsänger auf und gehen an der kapitalistichen Vermarktung fast zugrunde. Zugrunde geht auch, wenn auch nur zum Schein, der Schauspieler Wendelin, im Konflikt mit seinem Intendanten, der ihm eine
überpolitisierte Interpretation des Richard III. aufpfropfen will. Einen Konflikt ganz anderer Art schließlich hat Theo Krüger durchzustehen, als er eines Tages zugibt, dass er zu seinem erschienenen Buch nur die Idee hatte, ein anderer es aber schrieb.
INFORMATIONSDIENST 10/1983

In allen drei Erzählungen liegt über dem Geschehen der Hauch von etwas Unwirklichem. Im „Wendelin“ entdeckt der Ich-Erzähler das erbärmliche Verhalten des Dramaturgen, der wider besseres Wissen den Intendanten hofiert und sich von ihm widerspruchslos malträtieren lässt. Der liebedienernde Mann macht sich selbst zum Handlanger eines „Diktators“, der sich anmaßt, allein das politische Erfordernis erkannt zu haben, wie „Richard III. auf die Bühne zu bringen sei. Und da wird er unter dem Vorwurf historischer Indifferenz den Schauspieler Wendelin „schon einpassen ins Korsett“. In diesem Verhalten trägt er Züge einer Cipolla-Figur. In der Erzählung „Orpheus in Bärnau“ nutzt Pieske die verfremdende Sicht auf die
Wirklichkeit durch eine Figur, die keine Kenntnis über sie besitzt und alles uns Gewohnte als etwas völlig Neues sieht. ….
Die originäre Leistung Pieskes liegt für mich darin, dass und wie er den Orpheus und Jason-Mythos „korrigiert“: Der soziale Gehalt der Antiken Vorlage wird verstärkt und dann zu gegenwärtigen Erscheinungen in Beziehung gesetzt.
NDL (Neue deutsche Literatur) des Jahres 1984

Der Einfall ist schon gut: Da betrachtet vor einem baufälligen Zaun ein „Typ“, der dem attischen Helden Orpheus ähnlich sieht, erstaunt sein Konterfei auf einem Plakat, macht sich geradewegs auf nach „Bärnau“, um sich dort einzunisten, hat nun das antike Gewand vollends übergestreift und wird – an der Seite seiner ihm vor über 2000 Jahren angetrauten Eurydike – von einem rasch auftauchenden „Mänätscher“ zum Popsänger für die „Säsong“ in Bärnau verpflichtet.
Daß den Griechen zu ihrer Zeit das Singen leicht fiel, weiß man; aber zu einem „richtschen“ Sänger der Gegenwart gehört ungleich mehr, nämlich die „Bänd“ und die „Fäns“ und das ganze „Mänatschment“, worauf Pieske mit herrlichen satirischen Hieben zielt. Überhaupt schlägt er aus seinem Grundeinfall, der antiken Verfremdung, viel erzählerisches Kapital: Wenn zum
Beispiel der angespannte Alltag einer werktätigen Mutter, aus antikem Blickwinkel betrachtet, nur noch wenig Spielraum an Humanismus, wie ihn die Griechen, die „Kinder der Weltgeschichte“ (Marx), praktizierten, übriglässt.
Doch dann erhält die moderne Orpheusiade eine überraschende Wende: Das Schougeschäft“ westlicher Prägung erleidet Schiffbruch – und ausgerechnet durch Orpheus selbst. Angesichts der Bedrohung des Lebens (am Beispiel Eurydikes, die nach einem schweren Verkehrsunfall im Koma liegt) stimmt „Topstar“ Orpheus plötzlich andere Töne an – von Verantwortung und Mitgefühl. Die „Fäns“ spalten sich in zwei Lager: Bei seinem Abschiedskonzert“ wird Orpheus, weil er vor Krieg und Zerstörung warnt, bejubelt und zugleich ausgepfiffen. Dieser Schluß wirkt nicht angekittet; Pieske versteht es sehr schön, die Figur des Orpheus zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, zwischen Traum und Realität
in der Schwebe zu halten. Eine aktuelle Geschichte also aus dem Popkünstlermilieu, zu der sich noch zwei andere – über Schauspieler und Schriftsteller – gesellen. Auch sie handeln, novellistisch erzählt, von Ansprüchen, Wünschen und Sehnsüchten verschiedener Künstlerpersönlichkeiten. Sie und vor allem die Titelgeschichte bereichern unsere Literaturszene, letztere wäre auch als Sujet für eine filmische Adaption denkbar.
SCHWERINER VOLKSZEITUNG vom 9.11.1984

Leseprobe

Staunend stand der Mann vor dem Bretterzaun. Ein Anschlag klebte dort, und von dem bekam er die Augen nicht weg. Welch sonderbare Ähnlichkeiten! Ein dicker Mann und eine schmale Frau waren da drauf, und die hießen Orph und Euridies.
Heftig, ohne dass er sich wehren konnte, fing sein Leib an zu beben. Vor allem das Bild der Frau war schuld, das Gesicht dieser Euridies. Er schüttelte den Kopf und drückte die Augen einen Moment lang zu. Er wollte nicht andauernd jene Frau anstarren. Unwillkürlich sah er sich im Zwielicht des Schattenreiches, wo – körperlos licht – er und Eurydike Jahrtausend zugebracht haben. Bis jetzt. Aufdringlich schwer fühlte er nun seinen Körper. Aber noch floß, allzu träge, durch die Adern das Blut. O ja, ihm war nach Schlaf, nach viel Schlaf, und er machte sich auf den Weg zur Herberge. Für Orph, nicht wahr?“ sagte dort ein nicht gerade ansehnlicher Mensch zu ihm, der seinen Platz hinter einer Barriere hatte. „Ja. Selbstverständlich. Die Zimmer sind reserviert für Sie und Ihre Gattin.“ Nun taumelte der dicke Mann vor der Barriere doch. Das konnte nur ein Missverständnis sein! Vielleicht kam es vom schnellen, nachlässigen Sprechen dieses Mannes, und er hatte ungenau verstanden? Schließlich war er ein Fremder hier, noch nicht geübt in der Sprache des Landes. Dennoch wollte er sagen: Orpheus. Nicht Orph, mein Name ist Orpheus, mein Herr. Jedoch – er scheute sich. Auch war er ohne Kraft mit einemmal und hatte Nebelwolken vor den Augen. Das kam von der Auskunft. Wenn Eurydike – das war gar nicht auszudenken! -, wenn nun auch sie auf die Reise geschickt worden wäre durch die lange Nacht der Finsternisse? Um ihn hier oben zu treffen, in diesem Bärnau. Bei allen Göttern der Unterwelt, das wäre nicht auszuhalten – so viel Gnade. Augenblicklich rannen Tränen über sein dickes Gesicht.